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Mittwoch, 5. November 2014

Der Job

Was ist das nur für eine Zeit, wenn man so wie hier, auf einen Arbeitsplatz wartet. Es werden so viele Bewerbungen geschrieben und man bekommt nur Ablehnungen. In den nächsten Tagen wird 25 Jahre Mauerfall gefeiert. Nur gibt es wirklich einen Grund zu feiern, wenn es noch so viele Probleme gibt? Und das größte Problem ist diese Arbeitslosigkeit, die von den heutigen Politikern wie Gerhardt Schröder noch verstärkt wird. Darf ich es sagen, auch wenn nicht, ich bin froh, dass ich in der ehemaligen DDR aufgewachsen bin und keine Arbeitslosigkeit kenne. Nun aber zu dieser Geschichte ...



Der Job


"Sie sind spät dran." 
Der Mann vor mir blickte auf seine klobige Armbanduhr. Dann sah er mir tief in die Augen. 
"Aber noch in der Zeit. Gehen Sie hinein."

Ich öffnete hastig die Tür und warf einen schnellen Blick über den Saal. Alle blickten mich an. Dann sahen sie zurück zur großen elektronischen Tafel. Ein einziger Platz war noch frei. Schnell setzte ich mich dahin. Kaum saß ich, ging eine Tür auf der rechten Seite des Saales auf und herein kann ein Riese. Etwa über zwei Meter musste der Mann groß sein. 

"Guten Tag, meine Herren. Ich werde Ihre Prüfung überwachen. Sollte sich jemand von euch fremder Quellen bedienen, damit meine ich Nachbarn oder Spickzettel, so fliegt er raus. Sollte jemand austreten müssen, soll er es jetzt tun." Keiner rührte sich und der Riese fuhr fort: "Sollte jemand ungefragt reden, fliegt er raus. Sollte jemand durch irgend welche Geräusche die Prüfung stören, fliegt er raus." Er hielt einen Augenblick inne um uns anzuschauen. "Gibt es noch Fragen?" 
Keiner meldete sich. 

"Wie Sie alle bestimmt wissen, gibt es nur eine einzige Stelle zu vergeben. Tun Sie alle ihr Bestes, um diese Stelle zu bekommen. Eine solche Chance kriegen Sie die nächste Zeit nicht wieder." 

Er blickte noch einmal in die Runde."Dann werden wir mit der Prüfung beginnen. Auf der Tafel wird die Aufgabe erscheinen. Die Antworten werden Sie auf dem Terminal vor Ihnen eingeben. Gehen Sie vorsichtig damit um, eine Beschädigung wird durch Ausschluss bestraft. Sie haben, vom Aufleuchten der Tafel bis zum Schlussgong, genau 45 Minuten." 

Es wurde eisig. Keiner wagte laut zu atmen. 

Der Mann drückte einige Tasten auf seinem Pult und auf der großen Tafel erschien die erste und einzige Aufgabe. Es handelte sich dabei um eine Warscheinlichkeitsrechnung. 

Eine Glaskugel, Außendurchmesser 33cm, innen hohl, Wandstärke 1,5cm fällt aus einer Höhe zur Unterseite von 7,3m auf einen Holzboden. 

Berechnen Sie: 
1. Die Wahrscheinlichkeit, dass sechs Bruchstücke eine Gesamtfläche zwischen 18,5 und 19 Quadratzentimeter haben. 

(a) bei einem Boden aus Eichenholz. 
(b) bei einem Boden aus Weidenholz. 
(c) bei einem Boden aus Tannenholz. 

2. Die Wahrscheinlichkeit, dass das kleinste Bruchstück 0,3 Quadratzentimeter hat. 

3. Die minimale und maximale Anzahl der Bruchstücke. 

Als ich sah, was da so aufleuchtete, konnte ich mein Glück kaum fassen: es war mein Spezialgebiet. Und so stürzte ich mich auf die Aufgabe. 

Es waren noch keine zwanzig Minuten um, da hatte ich schon die Lösungen alle eingegeben. 

Ich sah mich vorsichtig um. Alle waren hochbeschäftigt, auch wenn es bei einigen aussah, als würden sie nicht gerade gut vorwärtskommen. 


Freude machte sich breit in mir. Ich konnte kein Mitleid für meine Mitbewerber empfinden, denn ich brauchte diesen Job. Meine Familie geht vor. Vor meinem geistigen Auge spielten sich dramatische Szenen ab, bei denen meine Mitbewerber die Nachricht ihrer Niederlage ihren eigenen Familien bekanngeben. Hastig verscheuchte ich die Bilder. Meine Familie geht vor!! 

Ich sah zum Supervisor hinüber. Er blickte mich streng an, sagte aber nichts, denn er konnte meinen Stand der Arbeit auf seinem Teminal beobachten. Ich sah ihm nur kurz in die Augen, aber da rührte sich nichts. Ich wandte mich wieder meinem eigenen Terminal zu. 

Wie sollte ich die nächste Zeit verbringen? Ich musste doch etwas machen können. Ich sah mir die Aufgaben noch einmal genauer an. Dann viel mir auf, dass es mehrere Lösungsmöglichkeiten gab. Ich fing noch einmal mit der Arbeit an. 

Drei Minuten vor Schluss hatte ich alle bekannten Lösungsmethoden durchgearbeitet. Die Resultate waren alle identisch. Ich schloss die Augen und entspannte mich. Das Gesicht meiner Frau erschien mir vor meinen geistigen Augen. Ein liebliches Lächeln umspielte ihre Lippen und es schien, als würde sie mir zurufen: Mach eine gute Arbeit - mir zuliebe! 
'Für Dich, mein Schatz!' 
Dann erklang die Stimme des Überwachers: 

"Finger weg von der Tastatur! Stehen Sie alle auf und gehen Sie nach Hause. Sie werden von uns benachrichtigt."

Die nächsten Tage waren zermürbend. Ich wartete jeden Tag auf den ersehnten Brief, aber er kam und kam nicht. Nach einer Woche war es dann soweit. Der Postbote rief mir schon vom Tor zu: "Heute haben Sie endlich Ihren langerwarteten Brief." Er hab ihn abwägend in der Hand. "Scheint irgendwie was besonders zu sein." 

"Ja, der ist auch was besonders. Es ist wahrscheinlich mein Einstellungsschreiben." 

"Na, dann wünsche ich viel Glück." Der Postbote verschwand nach draußen. 

Ich rief nach meiner Frau. Sie kam mit raschen Schritten herbei. Ihre Augen blickten erwartungsvoll. 

"Hast du ihn?" 

"Hab' noch nicht nachgeschaut." 

Sie umfasste meine Schulter und drückte sich fest an mich. Ihre Augen glänzten feucht und ich konnte ihre Gedanken auf dem Gesicht ablesen. 'Endlich sind auch wir in der Reihe ehrbarer Menschen, endlich haben auch wir einen Gehalt im Haus. Endlich etwas mehr als nur das wenige Karitativ - Geld. Endlich einmal Urlaub.' 

Meine Frau zitterte vor Aufregung. 

"Mach ihn schon auf." 

Ich konnte sie gut verstehen. Seit wir verheiratet waren, gute acht Jahre, hatten wir noch keinen einzigen Urlaub machen können. 

Mit hastigen Bewegungen riß ich den Brief auf. 

Sehr geehrter Kandidat, 
wir gratulieren Ihnen zu der außergewöhnlich guten Prüfung. Dadurch haben sie sich qualifiziert, einen Arbeitsplatz in unserer Firma zu belegen. Bitte kommen sie Montag sieben Uhr zu der weiter unten genannten Adresse. Dort werden Sie eingewiesen. 

Mit freundlichen Grüßen, 
Ihr Arbeitgeber. 

Meiner Frau flossen Tränen über das Gesicht. Auch ich konnte mich kaum beherrschen. Ich hatte ihn. Ich hatte den JOB, jetzt war ich wer. Endlich, nach langer Zeit konnte ich aufblicken und sagen: "Ich habe auch einen Job, einen Job als Straßenkehrer bei der Städtischen Müllabfuhr!"

Author: Muse 

Ich finde, es war eine makabere Situation ...




4 Kommentare:

  1. Hallo Margot,

    so komisch die Geschichte wirkt, irgendwie steckt natürlich viel Wahrheit drin.
    Heute braucht man teilweise Qualifikationen für die einfachsten Aufgaben mit denen man vor ein paar Jahrzehnten noch die tollsten Berufe ausüben konnte.

    Wenn ich mir überlege, mein erster Lehrer war gelernter Bäcker ;)
    So ändern sich doch die Zeiten.

    Als ich eine Ausbildungsstelle gesucht habe, lange ist es her, da bewarben sich teilweise mehrere hundert Bewerber um zwei bis drei Stellen, am Ende hatte oft einer mit den besten Beziehungen die Stelle ;)

    Alles nicht so einfach, das Haifischbecken kommt heute schon im Kindergarten ;)

    Liebe Grüße
    Björn :)

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    1. Hallo Björn deine Worte bestätigen meinen kleinen Beitrag. Ich finde es lächerlich, dass man für jeden Beruf heutzutage Abitur braucht oder Vitamin B.
      In der Praxis sieht alles ganz anders aus, da sehen die "Abiturienten" ziemlich doof aus. Was mich am meisten stört, das Menschen ohne Arbeit wie Verbrecher behandelt werden. Ich bin froh, dass ich das Rentenalter erreicht habe.
      Danke Björn für deinen Beitrag, ich freue mich darüber.

      Liebe Grüße, Margot.

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  2. Mir läuft es kalt den Rücken herunter!

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    1. Liebe Antje, in dem Beitrag steckt viel Wahrheit, aber es muss dir nicht kalt
      den Rücken herunter laufen. :-)

      Liebe Grüße, Margot.

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