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Mittwoch, 18. März 2015

Die verlorene Zeit

Mein Blick aus dem Fenster sagt mir, jetzt am Mittag ist es wunderschön, auch wenn ich mich noch nicht in der Sonne rekeln kann. Die Sonne erreicht meinen Balkon erst am Abend, dann werde ich den Tag aber genießen. Trotzdem gehen meine Gedanken schon jetzt auf Reisen und ich denke an die Zeit ... verlorene Zeit?  Nein, ich habe keine Zeit verloren, dazu habe ich keine Zeit gehabt ...

Dieses schöne Gedicht ist wieder von Jutta Schulte ... sie schreibt Zeilen, die mein Herz erreichen und ich frage mich ... wie viel Zeit habe ich noch ... 





Die verlorene Zeit

Letzte Nacht erschien mir im Traum
Ein Wesen, gar merkwürdig anzuschaun.
Es schaute mich an; direkt ins Gesicht
Und sprach: "Hör mir zu! Unterbrich mich nicht!“

Und als ich schon zweifelte an meinem Verstand,
da sah ich den Becher in seiner Hand.
Ich fragte: "Wer bist du? Was machst du da?
Es sprach, und es klang für mich sonderbar:


"Der Becher deines Lebens ist zur Hälfte schon leer.“
Da erschrak ich zutiefst und wunderte mich sehr.
Es packte mich die Angst und ich lief rasch von dannen,
zu suchen die Zeit, die zu rasch vergangen.

Und ich stieg auf die Berge in schwindelnde Höhn.
Und ich konnte ins Tal hinunter sehn.
Und es blies der Wind. Und ich habe geflucht.
Denn meine Zeit hab ich dort vergeblich gesucht.


Und ich legte mich ins Gras unter einen Strauch.
Da krabbelte ein Käfer über meinen Bauch.
Und ich fragte das Tier, ob es meine Zeit gefunden.
Es verneinte und ich war entmutigt für Stunden.

Dann ging ich an den Strand und blickte aufs Meer.
War hier meine Zeit? Ich wünschte es mir so sehr.
Doch nur die Flut kam, trieb die Wellen ans Land.
Was ich fand, waren nur die Muscheln im Sand.

Und ich lief nach Hause und weinte so sehr.
Siehe da! Das Wesen, ich fand es nicht mehr.
Doch seine Botschaft verstand ich nun.
Und ich wußte, ich konnte noch sehr viel tun.

Zum Glück verblieb mir ein Rest noch an Zeit.
Zum Aufgeben war ich noch lang nicht bereit.
Nun wollte ich die Zeit sinnvoll verwenden.
Ich würde geben aus Herz und mit Händen.


Ich war wirklich nicht der Nabel der Welt.
Ich habe endlich begriffen, was wirklich zählt.
Ich wollte dem Wesen danken, in die Augen ihm schaun.
Da wurde ich wach – es war nur ein Traum.

© Jutta Schulte (*1961), deutsche Dichterin und Aphoristikerin




8 Kommentare:

  1. Liebe Margot,
    dieses Gedicht ist toll, denn es steckt so viel Weisheit darin. Wir sollten unsere Zeit immer sinnvoll nutzen. Die Suche nach dem Glück, nach dem Leben... kostet uns nur die Zeit unseres Lebens, genießen und leben wir doch einfach für den Augenblick. Das Hier und Jetzt ist wichtig. Wir sollten das Vergangene dankbar in unsere Gegenwart mit aufnehmen und im Heute leben und so handeln, dass uns auch eine angenehme Zukunft erwartet. (Soweit uns dies möglich ist selbstverständlich).
    LG
    Astrid

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    1. Hallo Astrid das Gedicht ist wirklich schön, mir gefallen eigentlich alle Gedichte von Jutta Schulte, sie haben Tiefgang. Ja, die Zeit vergeht wirklich sehr schnell, aber ich habe nichts versäumt. Die Vergangenheit ist gelebtes Leben, die ich gerne betrachte und das Heute lebe. Zukunft ist für mich der gelebte Tag.
      Danke für deinen guten Kommentar. Wünsche dir einen schönen Abend.
      Herzliche Grüße, Margot.

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  2. Liebe Margot,
    das Gedicht hast du ganz toll ausgesucht. Es beinhaltet sehr viel Wahrheit.
    Keiner von uns weiß, wann die letzte Stunde gekommen ist.
    Einen schönen Resttag wünscht dir
    Irmi

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    1. Liebe Irmi hab vielen Dank. Ich möchte es auch nicht wissen, wann die letzte Stunde kommt, aber die Gedichte finde ich schön. ;-)
      Dir wünsche ich noch einen schönen Abend, herzlichst Margot.

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  3. Ein wirklich sehr weises Gedicht, Margot.
    Es gefällt mir sehr, denn es gibt einem einen Schubser. Nicht einer verlorenen Zeit nachtrauern, sondern mit der noch verbliebenen etwas Sinnvolles anfangen. Jeden Tag intensiv leben. Ich glaube, dass ist mir bislang gelungen. Wenn ich zurückblicke, hatte alles einen Sinn, auch oft erst auf den zweiten Blick und jede Zeit war für sich gut, so wie sie war.

    Aber am besten gefiel mir Dein Spruch und ich kann ihn nur absolut unterschreiben!
    Auch ich habe keine Zeit verloren, denn dafür habe ich auch nie Zeit gehabt.^^

    Liebe Grüße
    Sonja

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    1. Guten Morgen Sonja und vielen Dank für deinen wertvollen Kommentar. Ja, auch wenn ich zurückblicke, muss ich sagen, alles hatte seinen Sinn. Ich glaube es gibt gar keine verlorene Zeit. Egal wo wir sind und was wir machen, es soll so sein.
      Danke und einen wunderschönen Tag wünsche ich dir, herzlichst Margot.

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  4. Hallo Margot,

    ein sehr schönes Gedicht, glücklicherweise kennt man den Zeitstand in seinem eigenen Becher nicht. Ich möchte auch immer noch an mir arbeiten um endlich mehr zu Genießen :))

    Liebe Grüße und einen schönen Abend für Dich
    Björn :)

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    1. Lieber Björn, ich freue mich immer wenn dir die Gedichte gefallen. Dieses Gedicht regt dich sogar an, was mir noch besser gefällt. Es wäre schön, wenn du endlich Genießen könntest. :-)

      Einen schönen Abend und liebe Grüße, herzlichst Margot.

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