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Sonntag, 12. April 2015

Das gemietete Zimmer

Mein Blick aus dem Fenster zeigt mir einen bewölkten Himmel an, so sind im Moment auch meine Gedanken, etwas bewölkt. Doch es kommen immer wieder Sonnenstrahlen durch, am Himmel und auch bei mir. Es ist kein Grund in Wehmut zu versinken, dazu ist die Welt zu schön. Nach meinem Einkauf heute früh und ein wenig Hausarbeit, lese ich wieder ein paar Geschichten. Ich lese nicht mehr gerne dicke Bücher, sie habe ich in meiner Jugend gelesen, nun kommen Kurzgeschichte dran ... sie machen mir mehr Spaß als Weltliteratur.

Foto: overnature


Das gemietete Zimmer


Unser Haus lag dem Eingang des Krankenhauses direkt gegenüber. Wir wohnten unten und vermieteten die Zimmer in der oberen Etage an die ambulanten Patienten der Klinik. 
An einem Abend im Sommer machte ich gerade das Essen zurecht als es an der Tür klopfte. Draußen stand ein schrecklich aussehender Mann. “Der ist ja kaum größer als mein Achtjähriger”, dachte ich als ich den gebeugten, runzligen Körper anstarrte. Doch das Schrecklichste war sein Gesicht, ganz schief durch eine Schwellung, rot und wund.
Seine Stimme jedoch war angenehm als er sagte: “Guten Abend. Ich komme, um zu sehen, ob Sie für eine Nacht ein Zimmer für mich haben. Ich bin heute für eine Behandlung in der Klinik angereist und bis morgen geht kein Bus zurück.“
Er erzählte mir, er suche bereits seit dem Mittag erfolglos nach einem Zimmer. "Ich denke, es liegt an meinem Gesicht ... Ich weiß, dass es schrecklich aussieht, doch mein Arzt sagt, nach ein paar weiteren Behandlungen ..." Einen Augenblick lang zögerte er, doch seine nächsten Worte überzeugten mich: “Ich könnte auch in diesem Schaukelstuhl auf der Veranda schlafen. Mein Bus fährt schon früh am Morgen.”
Ich sagte ihm, wir würden ihm ein Bett herrichten, er brauche nicht auf der Veranda zu schlafen. Ich ging wieder hinein und machte das Abendessen fertig. Als wir soweit waren, fragte ich den alten Mann, ob er uns Gesellschaft leisten wolle. „Nein, danke. Ich habe genug.” Dabei hielt er eine braune Papiertüte hoch. 
Als ich mit dem Abwasch fertig war, ging ich auf die Veranda um ein paar Minuten mit ihm zu reden. Es brauchte nicht lange um zu erkennen, dass dieser alte Mann ein übergroßes Herz in seinem winzigen Körper hatte. Er erzählte mir, dass er fischen gehe um seine Tochter, ihre fünf Kinder und ihren Ehemann zu unterstützen, der durch eine Rückenverletzung hoffnungslos verkrüppelt war.
Er erzählte das nicht mit klagendem Unterton, vielmehr ging jedem Satz ein Dank an Gott für einen Segen voraus. Er war dankbar, dass seine Krankheit, die offenbar eine Art Hautkrebs war, nicht von Schmerzen begleitet war. Er dankte Gott dafür, dass er ihm die Kraft gab, weiterzumachen.
Als es Zeit zum Schlafengehen wurde, stellten wir für ihn ein Campingbett in das Kinderzimmer. Als ich am nächsten Morgen aufstand, war die Bettwäsche säuberlich gefaltet und der kleine Mann saß auf der Veranda. 
Er wollte kein Frühstück, doch kurz bevor er aufbrach, um seinen Bus zu erreichen, sagte er stockend, als würde er um einen großen Gefallen bitten: “Könnte ich bitte beim nächsten Mal wieder zurückkommen, wenn ich wieder zur Behandlung hierher muss? Ich werde Ihnen keinerlei Umstände machen. Ich kann auch gut in einem Stuhl schlafen.” Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: “Bei Ihren Kindern fühle ich mich wohl. Erwachsene wenden sich ab wegen meinem Gesicht, aber Kindern scheint das nichts auszumachen.”
Ich sagte ihm, er sei jederzeit wieder willkommen.
Beim nächsten Mal kam er kurz nach Sieben am Morgen. Als Geschenk brachte er einen großen Fisch und ein Viertel der größten Austern mit, die ich je gesehen hatte. Er sagte, er habe sie früh am Morgen enthülst, damit sie ganz frisch seien. Ich wusste, dass sein Bus um 4.00 Uhr bereits gefahren war und fragte mich, wann er aufgestanden war um das für uns zu tun.
In den Jahren, in denen er zu uns kam, um zu übernachten, kam es nie vor, dass er uns nicht Fisch oder Austern oder Gemüse aus seinem Garten mitbrachte.
Manchmal schickte er auch Päckchen mit der Post: Fisch und Austern, verpackt in einer Kiste mit frischem, jungem Spinat oder Grünkohl, jedes Blatt sorgfältig gewaschen. Das Wissen, dass er fünf Kilometer bis zum Postamt laufen musste und wie wenig Geld er hatte, machte diese Geschenke doppelt kostbar.
Wenn ich diese kleinen Erinnerungen erhielt, dachte ich oft an eine Bemerkung, die unser Nachbar an dem Morgen gemacht hatte, nachdem unser Gast das erste Mal bei uns übernachtet hatte. "Habt ihr diesen schrecklich aussehenden Mann letzte Nacht bei euch untergebracht? Ich habe ihn weggeschickt! Mann kann ja seine Stammkunden verlieren wenn man solche Leute aufnimmt!" 
Vielleicht haben wir ein oder zweimal Kunden verloren. Aber wenn sie ihn nur gekannt hätten! Vielleicht wären ihre Krankheiten dann leichter zu ertragen gewesen. Ich weiß, dass unsere Familie immer dankbar sein wird, ihn gekannt zu haben. Von ihm haben wir gelernt, was es bedeutet, das Schlechte ohne Klagen und das Gute mit Dankbarkeit vor Gott anzunehmen.
Kürzlich besuchte ich eine Freundin, die ein Gewächshaus hat. Als sie mir ihre Blumen zeigte, kamen wir auch zu der Schönsten von allen, einer goldenen Chrysantheme voller Blüten. Doch zu meinem großen Erstaunen wuchs sie in einem alten, verbeulten, rostigen Kübel. Ich dachte bei mir: „Wenn das meine
Pflanze wäre, würde ich sie in den prächtigsten Behälter setzen den ich habe!" 
Meine Freundin änderte mein Denken. „Ich hatte nicht mehr genug Töpfe“, erklärte sie, „und da ich wusste, wie wunderschön diese Pflanze werden würde, dachte ich, es würde nichts ausmachen, sie zunächst einmal in diesen alten Eimer zu setzen. Es ist ja nur für kurze Zeit, denn dann kann ich sie nach draußen in den Garten setzen." 
Sie muss sich gefragt haben, weshalb ich so verhalten gelächelt habe, doch ich stellte mir genau so eine Szene im Himmel vor. „Hier ist ein besonders schönes Exemplar“, mag Gott gesagt haben als es um die Seele des lieben alten Fischers ging, „ihm macht es nichts aus, wenn er in diesem kleinen Körper beginnt." 
All das ist vor langer Zeit geschehen – und wie prächtig muss diese liebliche Seele jetzt in Gottes Garten stehen!


6 Kommentare:

  1. Liebe Margot,
    Du hast heute eine Geschichte eingestellt, die doch sehr nachdenklich macht. Wie oft urteilt man doch nach Äußerlichkeiten, aber jeder Mensch sollte die Chance haben, um auch seine inneren Werte, seine Herzlichkeit zeigen zu können. Ich bewundere Menschen, die trotz schwerer Schicksalsschläge ihre Dankbarkeit nicht verlieren. Wir sollten uns nicht abwenden,wie der Nachbar in der Geschichte.
    Schön, dass Du diese Geschichte für uns gefunden hast.
    LG
    Astrid

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    1. Liebe Astrid ich freue mich wirklich, wenn Geschichten gefallen, denn sie treffen auch mein Herz. Abwenden, nein, es wäre für mich zu traurig, einen Menschen vor den Kopf zu stoßen. Viele Menschen lehnen andere Menschen ab, ohne nachzudenken, wie verletzend ihre Handlung ist. Nein ich freue mich selbst, wenn ich angenommen werde, wie ich bin.
      Danke für deine guten Zeilen. Wünsche dir einen wundervollen Sonntag.
      Liebe Grüße, Margot.

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  2. Liebe Margot,
    da hast du ein wunderschönes Bild ausgewählt !


    Viele Grüße - Monika

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    1. Liebe Monika, ich muss sie, die Fotos, auswählen. Du fotografierst und gestaltest sie. Vielen Dank.

      Liebe Grüße, Margot.

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  3. Eine schöne Geschichte, wir werten immer noch viel zu viel rein nach dem Aussehen, ein großer Fehler.

    Liebe Grüße
    Björn :-)

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    1. Lieber Björn, diesen Fehler werden wir wohl beibehalten, denn wir werten immer nach dem Aussehen. Es hat etwas mit unserem Befinden zu tun, ohne den Anderen verletzen zu wollen.
      Liebe Grüße, Margot.

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