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Mittwoch, 21. Oktober 2015

Der Stier und die Raupe

Wenn ich solche Fabeln von Leonardo da Vinci lese, wie in diesen zwei Geschichten, lese ich vom Tod und vom Leben. Ich lese von der Natur, in Schönheit und Grausamkeit. Die Grausamkeit der Menschen ist zwar hier berechtigt, weil sie dem Stier das Töten unterbinden, indem sie ihn selbst töten. Doch wie oft wird getötet, ohne Grund. 
In der anderen Geschichte erleben wir das Leben in seiner Schönheit. Von einer Raupe zu einem schönen Schmetterling. Ja, diese Variante gefällt mir besser.


Der Stier

Ein Stier in Freiheit wütete unter den Herden. Die Hirten hatten keinen Mut mehr, das Vieh durch den Wald zur Weide zu bringen, aus dem plötzlich mit gesenktem Kopf die Bestie brach, um mit den Hörnern alles zu durchbohren, was ihr begegnete.
Die Hirten wussten freilich, dass das Tier die rote Farbe hasste, und darum entschlossen sie sich, ihm eine Falle zu stellen. Sie befestigten ein rotes Tuch an dem starken Stamm eines Baumes und verbargen sich danach. Der Stier, mit schnaubenden Nüstern, ließ nicht lange auf sich warten. Als er das rote Tuch sah, senkte er den Kopf, setzte sich in Bewegung, bohrte mit großem Krachen die Hörner in den Baum - und war gefangen. Und so töteten ihn die Hirten.

Die Raupe

Eng an ein Blatt geschmiegt, sah die Raupe um sich: Da sang es, sprang es, lief es, flog es.
Alle Insekten waren in ständiger Bewegung, nur sie, die ärmste, hatte keine Stimme, lief nicht, flog nicht. Mit großer Mühe gelang es ihr, sich vorwärts zu bewegen, aber so wenig, dass sie eine Weltreise gemacht zu haben schien, wenn sie von einem Blatt zum anderen glitt.
Trotzdem beneidete sie niemanden. Sie wusste, dass sie eine Raupe war und dass die Raupen es lernen mussten, einen seidigen Schaum zu spinnen, um mit wunderlicher Kunst ihre Behausung zu weben. Also machte sie sich mit großem Eifer an ihre Arbeit. In kurzer Zeit war die Raupe eingeschlossen in einen lauwarmen Kokon von Seide und abgetrennt von der übrigen Welt.
"Und nun?" fragte sie sich. "Noch ein wenig Geduld, und du wirst staunen."
Im rechten Augenblick erwachte die Raupe und war keine Raupe mehr. Aus dem Kokon trat sie mit zwei herrlichen Flügeln, die mit lebhaften Farben geschmückt waren, und erhob sich sogleich in die Höhe, himmelwärts.




Herzlichst Margot

2 Kommentare:

  1. Liebe Margot,
    mir gefällt die Fabel von der Raupe auch besser.
    "Noch ein wenig Geduld, und du wirst staunen!" Ist es nicht auch so unter uns Menschen? Gar mancher, von dem man es nie erwartet hat, erhebt sich plötzlich zu Höhenflügen. Das Leben ist Entwicklung und Veränderung und hält immer wieder Überraschungen für uns bereit. So entwickelt sich auch aus etwas Unscheinbaren etwas Wunderschönes. Das Wunder der Natur, des Lebens.
    LG und einen schönen Tag
    Astrid

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    1. Liebe Astrid, ja die Menschen sind unberechenbar, sie steigen zu Höhenflügen auf und wundern sich, wenn sie auf die Nase fallen. Nicht alles ist immer schön.
      Einen schönen Tag und liebe Grüße, Margot.

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