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Freitag, 16. Oktober 2015

Die Nuss und der Kirchturm

Wenn ich an kaputte Mauern vorbeigehe, muss ich jetzt immer an diese Geschichte von Leonardo da Vinci denken. Es stehen zwar nicht immer Nussbäume neben Kirchenmauern, aber meine Gedanken lassen es  sich nicht verbieten, außerdem gibt mir diese Geschichte ein wenig Heimatgefühl. In Gedanken lebe ich nicht in einer großen Stadt , sondern in einem Dorf wo noch die Menschen zusammenhalten ... und, und, und, einfach nur schön.


Die Nuss und der Kirchturm

Eine Krähe pickte eine Nuss auf und trug sie auf die Höhe eines Kirchturms. Die Frucht zwischen den Krallen, versuchte sie mit Schnabelhieben die Nuss zu öffnen; aber unversehens entrollte sie ihr und verschwand in einem Spalt des Mauerwerks.
"Mauer, gute Mauer!" flehte die Nuss, die glücklich war, aus dem tödlichen Schnabel der Krähe befreit zu sein. "Im Namen Gottes, der zu dir so gut gewesen ist, indem er dich so hoch und fest geschaffen hat und reich an schönen Glocken, die so herrlich tönen, hilf mir, habe Mitleid mit mir! Ich war ausersehen, unter die Zweige meines alten Vaters zu fallen, um mich auszuruhen in der fetten Erde, von gelben Blättern zugedeckt. Verlass mich nicht, ich bitte dich. Als ich im rohen Schnabel der Krähe war, habe ich ein Gelübde getan: Wenn Gott mich daraus entrinnen lässt, verspreche ich, den Rest meiner Tage in einem kleinen Loch zu verbringen."
Die Glocken warnten mit leichtem Murmeln die Mauer des Kirchturms, Acht zu geben, weil die Nuss gefährlich werden könnte; aber die Mauer, von Mitleid bewegt, beschloss, sie zu beherbergen, und erlaubte ihr, in dem Spalt zu bleiben, in den sie gefallen war.

In kurzer Zeit nun begann die Nuss sich zu öffnen und ihre Wurzeln zwischen
den Steinen zu entfalten, und die Wurzeln machten sich breit, indes die Zweige aus dem Spalt sprossen.
Und die Zweige wuchsen, wurden stärker, sie erhoben sich hoch bis zur Turmspitze, und die Wurzeln, anwachsend und sich wölbend, begannen, das Mauerwerk zu sprengen und die Steine beiseite zu stoßen.
Zu spät begriff die Mauer, dass die Bescheidenheit der Nuss und ihr Gelöbnis, im Spalt verborgen zu bleiben, nicht aufrichtig waren, und sie bereute, den Glocken kein Gehör
geschenkt zu haben.
Die Nuss wuchs weiter, herausfordernd und ungerührt, und die Mauer, die arme Mauer, fuhr fort, abzubröckeln und einzustürzen.

Herzlichst Margot

2 Kommentare:

  1. Liebe Margot,
    ich musste beim Lesen der Geschichte an einen Spruch denken. Dieser beschreibt das Wesen mancher Menschen, nämlich dann, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht und diese dann gleich die ganze Hand wollen. Unter falschen Versprechungen wird einfach eine Situation ausgenutzt.
    LG aus dem herbstlichen Cottbus
    Astrid

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    1. Liebe Astrid, als ich diese Geschichte aufschrieb, habe ich auch an diesen Spruch, den du genannt hast, gedacht. Nun freue ich mich, dass du den Sinn der Geschichte erkannt hast.
      Vielen Dank und einen schönen Tag. Liebe Grüße, Margot.

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