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Mittwoch, 9. Oktober 2013

Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein

... es ist eine kleine Geschichte, über die ich nachdenken musste. Sie ließ mich über das Leben nachdenken, über das Kommen und das Gehen. Nun, ich bin mehr am Gehen dran, deshalb wohl mein Interesse ...


Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein

Ein kleiner Käfer krabbelte mühsam auf steinigem Weg. Es waren viele Hindernisse auf seiner Straße. Strohhalme und sonstige schwer zu bewältigende Gegenstände. Es war recht anstrengend. Fliegen konnte er nicht. Es war ein Krabbelkäfer. Zudem war sein linkes Hinterbein verkümmert - schon von Geburt an. Er schleppte es nach. Es war ein trauriger Fall. Aber er pilgerte tapfer weiter. Käfer gehen und wandern nicht. Sie pilgern. Das ist ein großer Unterschied.

"Gehen Sie doch aus dem Wege!" schrie eine Hummel, namens Summser, den Pilger an und brummte böse. "Strolcht so was auf der Straße herum und stört achtbare Damen, die sich auf den Blumenmarkt begeben!"

"Entschuldigen Sie", sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein, "ich muss pilgern, ich bin ein Krüppel." Er wies mit dem Fühlhorn auf das verkümmerte Hinterbein.

"So, so", sagte Frau Summser mitleidig, "dann ist es ja etwas anderes. Das habe ich nicht gesehen. Ich war so eilig. Wenn man heutzutage nicht sehr zeitig an die Blumen kommt, ist alles vergriffen. Die Konkurrenz ist sehr groß. Aber warum müssen Sie den pilgern? Wäre es mit Ihrem Bein nicht besser, Sie würden zu Hause bleiben? Sie müßten heiraten. Dann haben Sie wenigstens Ihre regelmäßigen Mahlzeiten." 


"Nein, ich muß pilgern", sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein. "Ein alter Käfer, den ich wegen meines Leidens konsultierte, sagte mir das. Er sprach von der Religion des heiligen Skarabäus und sagte, ich müsse das Rad des Lebens suchen. Das ist ein sehr alter Glaube und ein großer Trost für arme Krabbelkäfer."

"Und was hat man davon?" fragte Frau Summser. "Es ist doch gewiß viel vernünftiger, rechtzeitig auf den Markt zu kommen."

Der kleine Käfer zog das verkrüppelte Bein mit einer zuckenden Bewegung an den Körper, so daß es nicht mehr zu sehen war. "Man kann ein Rosenkäfer werden", sagte er geheimnisvoll. 

"Ist das ein lohnender Beruf?" fragte Frau Summser. 

Sie war eine überaus praktische Hausfrau. Ihre Honigtöpfe waren unübertroffen und bekannt im ganzen Umkreis eines Insektenflugs.

"Man glänzt dann wie flüssiges Gold, und man kann fliegen. Man ruht in den Rosen und atmet ihren Duft." 

Frau Summser wurde hierdurch an Ihren Markt erinnert. "Jetzt muß ich mich wirklich beeilen", sagte sie, "die Konkurrenz ist eine zu große heutzutage. Jedenfalls wünsche ich Ihnen alles Gute."

Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein pilgerte weiter. Über den Weg kam ein Wagen gefahren. 

Das ist das Rad des Lebens, dachte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein und hastete darauf zu. 

Das Rad ging über ihn hinweg.

Auf dem Weg blieb nichts als eine formlose Masse.

Zur selben Stunde kroch im sonnigen Süden ein kleiner Rosenkäfer aus dem Ei. Ganz zuerst betastete er mit dem Fühlhorn sein linkes Hinterbein. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Das linke Hinterbein war gesund und glänzte wie flüssiges Gold. Es war fast noch schöner und glänzender als die anderen Beine. 
Manfred Kyber 1880 - 1933


Die Rosen dufteten. 
Das Rad des Lebens ging weiter.


12 Kommentare:

  1. Was für eine Geschichte! Ich habe richtig Gänsehaut bekommen, Margot.
    Wunderschön! Sie schockiert zuerst und doch dann gibt sie Hoffnung.
    Hoffnung darauf, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist. Hoffnung, dass alles Leid im Leben nicht umsonst war und in einem nächsten Leben oder wo es sonst weitergeht, vergolten wird. Ja, das wäre schön. Manchmal glaube ich daran, manchmal zweifele ich. Heute glaube ich. Dank Deiner Geschichte, liebe Margot.

    Liebe Grüße
    Sonja

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    1. Liebe Sonja,
      deine Worte ergreifen mich, und ich bekomme jetzt Gänsehaut. Ja, was wird nach dem Tode sein? Wird es etwas geben? Ich lasse mich überraschen! Man ist immer so hin und her gezogen, jedenfalls in dieser Frage ...
      Danke für deine wunderschönen Worte. Ganz liebe Grüße, Margot.

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  2. Hallo Margot :)

    da hast Du eine sehr schöne Geschichte ausgegraben, hat mir sehr gut gefallen - zunächst klingt sie ziemlich traurig und hat dann doch ein sehr schönes Ende gefunden. Toll!

    Ich hoffe es wird wirklich so sein, irgendwann am Ende der Zeit ;)

    Lieben Gruß und noch einen wunderschönen Tag
    Björn :)

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    1. Hallo Björn, vielen Dank für deine positiven Worte. Ich hoffe auch, auf so ein schönes Ende, was noch lange warten kann. ;-)

      Liebe Grüße, Margot.

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  3. Heute lasse ich dir einfach wunderschöne Grüsse da.
    War den halben Tag in der Uniklinik und bin nun super müde.
    Viele liebe Grüsse Babs

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    1. Danke liebe Babs für deine wunderschönen Grüße.
      Es schmerzt mich, dass du in die Klinik musstest.
      Nun wünsche ich dir einen guten Schlaf.
      Liebe Grüße, Margot.

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  4. Eine interessante Geschichte, die zum Nachdenken über ein Leben nach dem Tode anregt.
    Vieles würde leichter fallen, wüssten wir es genau, dass es ein "besseres" Leben nach dem Tode, bzw. überhaupt ein Leben nach dem Tod gäbe. Andererseits stellt sich die Frage: wären wir trotzdem bereit, unsere kleinen und großen Gebrechen zu erdulden? Wo wäre die Schmerzgrenze? Vermutlich würde die Freitodrate erheblich steigen.
    Was mir an der Geschichte nicht so gut gefällt, ist, das Behinderung mit Tod verknüpft ist um ein "lebens"wertes Leben zu erreichen.
    nachdenkliche Grüße
    Eva

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    1. Liebe Eva, du gehst weit ins Detail auf deinen Gedankengängen. Ich finde es gut, dass wir nicht alles wissen: Die Freitodgrenze würde uns vielleicht erschrecken. Wo liegt für uns die Schmerzgrenze? Wo liegt die Behinderung mit dem Tod? Nein, es ist gut, dass wir nicht alles Wissen. Danken möchte ich dir trotzdem für deine Gedanken, sie sind bewundernswert.
      Liebe Grüße, Margot.

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  5. Liebe Margot

    Eine tolle Geschichte wenn auch im ersten Moment sehr traurig.
    Das die Geschichte vom Pilgern handelt gefällt mir besonders.
    Danke dafür

    Liebe Grüße
    Tina

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    1. Danke liebe Tina, dass dir diese etwas traurige Geschichte gefällt. Und mit Pilgern, ja, dass ist etwas für dich. Schön, dass du gekommen bist.

      Liebe Grüße, Margot.

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  6. So eine schöne Geschichte, liebe Margot,
    vielen Dank dafür, sie berührt mich gerade sehr.
    Ich wünsche dir einen schönen Tag und grüße herzlich
    Regina

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    1. Liebe Regina, hab vielen Dank für deine netten Worte. Du hast recht, diese Geschichte berührt einen Menschen. Und es kommen viele Vergleiche in den Sinn ...
      Wünsche dir einen herrlichen Herbsttag.
      Liebe Grüße, Margot.

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