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Montag, 19. Januar 2015

Der Neujahresbesuch

Diese Geschichte, die ich heute erzähle, soll sich zur Neujahrszeit zugetragen haben. Ich erzähle sie heute, es ist ja Januar und noch nicht sehr weit von Neujahr entfernt. Meine Stimmung liegt zwischen Lachen und Weinen. Ich denke an die Menschen, die nicht vom Glück gesegnet wurden und es auch in der heutigen Zeit schwer haben, ein ordentliches Leben zu führen. Besonders an alte Menschen, die viel Kummer erleben mussten ... und an alte Menschen, die am Ende ihres Weges stehen. Ihnen möge ein friedlicher Eintritt in eine andere Welt möglich und gegönnt sein.
Es ist mir nicht leicht gefallen, diese Geschichte aufzuschreiben, meine Tränen haben meinen Schreibfluss ständig unterbrochen, aber auch ich habe Hoffnung auf ein friedliches Ende. Doch vorher möchte ich noch sehr viele schöne und lustige Jahre erleben ... das wünsche ich auch euch allen.

Die Hoffnung, so trügerisch sie auch ist, dient doch dazu, uns zum Ende des Lebens auf einem angenehmen Weg zu führen.

François VI. Duc de La Rochefoucauld
(1613 - 1680), französischer Offizier, Diplomat und Schriftsteller


Der Neujahresbesuch
neujahrswuensche.net

In einem Dorf lebte einmal ein altes Ehepaar. Sie hatten beide ihr ganzes Leben hart gearbeitet und waren doch arm geblieben. Nie hatten sie die Sonnenseite des Lebens kennen gelernt. Sie wohnten ganz alleine in einer kleinen und armseligen Hütte. Ihre einzige Tochter war mit 15 Jahren an Gelbfieber erkrankt und gestorben. Der Sohn hatte als Soldat im Krieg sein Leben lassen müssen. Das war nun schon über dreißig Jahre her. Oft sagte der alte Mann traurig zu seiner Frau: “Es waren uns nur wenige Jahre vergönnt, in denen wir alle vier zur Neujahrsandacht in die Kirche gehen konnten”.

Nun war wieder einmal der Neujahrstag gekommen. In der Nacht zuvor hatte es geschneit. Der Schnee bedeckte die Armut der kleinen Hütte und zauberte ein glitzerndes Weiß auf das Dach. Drinnen aber saßen die beiden alten Leute und dachten mit Wehmut und Gram an die Zeit mit ihren Kindern. Seit einigen Monaten fühlte sich der alte Mann krank. “Ich glaube, dass ich nicht mehr lange leben werde”, sagte er zu seiner Frau. Diese weinte still in ruhelosen Nächten. Was würde denn sein, wenn sie ganz alleine mit ihren Erinnerungen leben musste?

Wie jeden Mittag bereitete sie ein karges Mahl zu. Sie setzten sich zusammen an den alten Tisch und aßen schweigend. Der Mann sah seine Frau lange an, doch sie wich seinem Blick aus. Er sollte nicht sehen, dass sie schon wieder geweint hatte. Nach dem Mahl sagt der Mann: “Ich bin sehr müde, Frau! Da auf die Bank will ich mich legen und ein wenig schlafen”.
Die Frau nickte nur stumm mit dem Kopf. Er legte sich hin und war sehr bald eingeschlafen. Sie betrachtete ihren Mann und liebevolle Erinnerungen stiegen

in ihr auf. Das erste Kennenlernen, der erste Kuss und das Versprechen, sich nie mehr zu verlassen. Das alles hatten sie in einem entbehrungsreichen Leben erreicht. Sie kannten weder Reichtum noch Vermögen, aber sie wussten sehr wohl was Liebe bedeutete.

Der Mann schlief sehr lange und draußen begann es schon zu dämmern. “Nun werden wir auch in diesem Jahr nicht mehr zur Neujahrsandacht gehen”, sagte die Frau leise. So schloss sie ihre Augen, faltete die Hände und sprach ein kurzes Gebet. Als sie die Augen nach einer Zeit wieder öffnete bemerkte sie, dass es im Raum eigenartig hell war. Ein Lichtstrahl fiel durchs Fenster und erleuchtete die armselige Stube. Doch er strahlte so hell, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Die Frau weckte ihren Mann. Auch er sah erschrocken in das Licht.
“Wie geht da zu?”, stammelte er bestürzt, “was für ein seltsamer Zauber ist das?”

Die alten Leute fassten einander an den Händen. Da! In diesem Moment klopfte es leise an die Türe.
“Mach’ nicht auf!”, flüsterte die Frau. Sie war zu Tode erschrocken.
“Ich glaube nicht, dass uns etwas Gutes da draußen erwartet”, sprach sie weiter.
“Ist schon in Ordnung, Frau”, antwortete der Mann, “wir öffnen die Türe nicht”.
Da erklang das leise Klopfen noch einmal.
“Vielleicht ist da draußen jemand in Not”, sprach der Mann, “es ist unsere Christenpflicht zu helfen!”


Obwohl ihn seine Frau davon abhielt, ging der Mann zur Tür. Noch einmal erklang das Klopfen. Da öffnete er ganz langsam die Türe – und erstarrte. Im dichten Schneegestöber standen zwei junge Menschen. Sie lächelten den Alten an.
“Ein frohes Neues Jahr, Vater!”, sprach da der junge Mann.
Er ging auf den erschrockenen Alten zu und drückte ihm herzlich die Hand.
“Auch von mir alles Gute!”, sagte nun auch das junge Mädchen und umarmte ebenfalls ihren Vater.
“Ihr seid es? Meine Kinder? Oh mein Gott! Ich…”, stammelte der alte Mann. Er fiel vor seinen Kindern im Schnee auf die Knie. Tränen liefen über seine Wangen und er konnte nichts sagen.
Der Sohn hob seinen Vater nun behutsam auf.
“Lasst uns in die Hütte gehen”, sprach der junge Mann, “wir wollen Mutter begrüßen!”

Die alte Frau hatte schon Sorge was da draußen wohl geschehen sei. Doch als ihre Kinder mit dem Vater in die Stube traten sank sie auf die Bank und wurde totenbleich.
“Ihr seid gekommen?”, flüsterte sie tonlos.
Doch da waren ihre Kinder schon auf sie zugeeilt und umarmten sie. Die alte Frau weinte und lachte und wusste gar nicht wie ihr geschah.
Nachdem die erste Wiedersehensfreude etwas abgeklungen war setzten sich alle auf die alte Eckbank. Dann begann der Sohn zu erzählen:
“Meine Schwester und ich haben so lange schon Euer Leid gesehen. Doch nie war es uns möglich, noch einmal zu Euch zurück zu kehren. Doch nun, da Vater nicht mehr lange zu leben hat, haben wir die Erlaubnis erhalten, noch einmal gemeinsam das Neue Jahr zu feiern”.
“Wer hat es Euch erlaubt?”, fragte der Vater, obwohl er die Antwort kannte.
“Ihr werdet ihn bald kennen lernen”, sprach die Tochter, “er hat mich damals so unsagbar getröstet, als ich von Euch gehen musste!”
Und die jungen Menschen erzählten ihren Eltern von der Herrlichkeit, den himmlischen Chören und dem ewigen Licht. Noch einmal saß die Familie zusammen und feierte das Neue Jahr. So eine große Freude hatte in der kleinen Hütte lange nicht mehr geherrscht.
Als es Mitternacht geworden war fragte die alte Frau: “Könnt Ihr nicht noch bei uns bleiben? Es wäre so schön, Euch in dieser so seligen Nacht bei uns zu wissen!”
“Natürlich Mutter”, sagte das Mädchen sanft, “wir werden uns jetzt nie mehr trennen”.
Und so legten sie sich schlafen. Als die alten Leute in ihrem Bett lagen, nahmen sie sich bei der Hand. Seit über dreißig Jahren waren sie nicht mehr mit so einem leichten und freudigen Herzen eingeschlafen.

Es war der 5. Januar als man die Tür der kleinen Hütte aufbrach. Seit Tagen hatte niemand mehr die alten Leute gesehen und die anderen Dorfbewohner befürchteten Schlimmes. Als die Leute in die Hütte traten fanden sie die beiden Alten tot im Bett liegen. Noch immer hielten sie sich an den Händen. Ein seliges Lächeln umspielte die Züge der Verstorbenen.
Niemand ahnte, dass sie, endlich wieder mit ihren Kindern vereint, in die Herrlichkeit eingegangen waren.


6 Kommentare:

  1. Ich habe am ganzen Körper Gänsehaut, Margot.
    Was für eine Geschichte. Sie erfüllt einen mit Traurigkeit, aber auch mit Hoffnung.
    Es wäre schön, so ein friedliches Ende zu finden. Gemeinsam mit meinem Mann, denn dann bräuchte keiner von uns beiden zurückzubleiben. Aber das mein Sohn mich abholt... nein, das auf keinen Fall. Das musste meine Oma erleben, als zwei ihrer Kinder vor ihr starben. Ach, jetzt kommen mir schon wieder die Tränen.

    Liebe Grüße
    Sonja

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    1. Hallo Sonja, ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte aufschreibe aber ich habe es getan, meine Stimmung war danach. Wenn ich an Sonne denke, denke ich auch an Regen, so ist das Leben. Wenn ich ans Leben denke, muss ich auch an das Ende meines Lebens denken. Hier wünsche ich mir eben ein Ende wie in dieser Geschichte. Es macht alles etwas leichter ...
      Bitte, sei nicht traurig, du sollst ein glückliches Leben mit allen deinen Lieben führen und ganz besonders mit deinem Sohn.
      Liebe Grüße, Margot.

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  2. Was für eine traurig-schöne Geschichte,
    so ein gemeinsames und tröstliches "Ende" des irdischen Dasein kann man sich nur wünschen :)

    Schrecklich ist es einen geliebten Menschen zu verlieren.

    Liebe Grüße und ich hoffe von Dir, Margot, noch sehr lange schöne Geschichten lesen zu können :)

    Björn :)

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    1. Lieber Björn, ich finde diese Geschichte wirklich traurig. Schön empfinde ich die Hoffnung auf das Kommende mit einem guten Ausgang. Hab vielen Dank für deine lieben Worte. Wünsche dir noch einen schönen Abend. Liebe Grüße, Margot.

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  3. Eine traurige Geschichte, die trotzdem Hoffnung gibt.
    Wir wissen alle nicht, was uns nach unserem hier und jetzt erwartet. Die Vorstellung, mit geliebten Menschen nach dem Tod wieder vereint zu sein gibt Trost und Zuversicht.
    LG Eva

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    1. Liebe Eva, nein, ich weiß es wirklich nicht. Deine lieben Worte geben aber viel Zuversicht. Danke.
      Liebe Grüße, Margot.

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