Leider habe ich heute nicht viel Zeit gehabt, aber um aus Peru ein Märchen zu erzählen, dazu habe ich mir noch Zeit genommen.
Die Steine der Tränen

Als er so verzweifelt da saß und keinen Rat mehr wusste, als sich selber zu entleiben, da klopfte es an die Tür, und herein trat ein uraltes Weiblein.
"Hör mich an, mein Sohn", sagte sie. "Pacha mama, die alles sieht und hört, schickt mich her zu dir. Ich soll dich trösten und ich werde mit dir weinen. Dein Unglück ist auch mein Unglück." Und schon sank das Weiblein zu Boden und fing ganz schrecklich an zu weinen.

Apasanca sammelte die schweren Silbertropfen hastig auf. Er konnte sie gar nicht so rasch aufheben, wie diese seltsame Frau die silbernen Tränen vergoss. Dreimal zwei Hände voll hatte der Schmied schon beisammen, als die Frau zu weinen aufhörte und sagte: "Ich glaube, mein Sohn, für heute hast du genug Silber, um morgen daran zu arbeiten. Sei fleißig und sorge dich nicht mehr. Morgen werde ich wiederkommen und dir neues Silber weinen. Und ich werde so lange kommen, bis die Menge wieder beisammen ist, die dir der Häuptling übergeben hat."
Als sich die alte, gebeugte Frau umwandte und die Hütte wieder verlassen wollte, stieg plötzlich das böse Blut Apasanca zu Kopf und verwirrte seine Sinne. Er warf sich auf die schwächliche Alte, schleuderte sie zu Boden, band ihr Hände und Füße mit festen Riemen und schlug mitleidlos auf sie ein.

Ermüdet hielt Apasanca inne. Die Frau weinte nicht mehr: aus den Klauen dieses grausamen Menschen hatte sie der Tod erlöst - der Silberschmied war an ihr zum Mörder geworden. Er packte das zuschandengeschlagene Bündel und warf die Leiche in den Abgrund.
Zufrieden, dass ihm dies alles so glatt von Händen gegangen war, kehrte er in seine Hütte zu dem Silberhaufen zurück. Doch da durchzuckte es sein Herz wie ein Stich: was vordem eine Menge Silber gewesen war, hatte sich plötzlich zu einem harten Steinblock verwandelt, der wie Tränen schimmerte.

Eines Nachts kam er, ohne dass es in seinem Willen lag, wieder in die Gegend seines Dorfes und musste die Baumbrücke überschreiten, von der er die alte Frau, die seine leibhaftige Mutter gewesen war, in die Schlucht hinabgeworfen hatte. Und die Brücke brach unter ihm zusammen und ließ ihn in die nämliche Tiefe stürzen, zu den kochenden Stromschnellen, die sein Opfer begraben hatten.
Seine Hütte im Dorf aber zerfiel. Doch der schimmernde Steinblock blieb stehen. Er steht noch immer an der Landstraße, gleich den vielen anderen Apachetas in dieser Gegend, den Kristallblöcken, die der Pacha mama heilig sind, weil aus ihnen, bis auf den heutigen Tag, die Tränen des Mitleids und des tiefen Schmerzes einer Mutter schimmern.
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